Warum sollte man einen Roman lesen, der im Klappentext bereits verrät, dass eine junge Frau auf einem Dach steht, dessen erster Satz lautet: Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füßen; einen Roman, der “Der Sprung” heißt? – Ja, warum eigentlich?
Der Sprung von Simone Lappert, Diogenes Verlag
Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit.
Der Sprung und 11 Schicksale
Simone Lapperts Der Sprung zeigt eindrucksvoll, wie alles und alle im Leben miteinander verwoben sind und bereits ein kleiner Schritt ausreicht, um dieses feine Gleichgewicht empfindlich zu stören. Tatsächlich bildet das Schicksal der jungen Frau auf dem Dach lediglich den Rahmen. Ihr Tun, ihr Ausharren über zwei Tage hinweg ist Auslöser, der das Leben ganz unterschiedlicher Menschen tiefgreifend verändert. Und so lässt Simone Lappert diese zehn Menschen die Geschichte, die lediglich zwei Tage umfasst, erzählen. Glücklicherweise tun sie dies in der dritten Person und so behält man beim Lesen trotz der vielen Charaktere stets den Überblick, zumal die Namen der Protagonisten auch als Kapitelüberschriften dienen.
Schnell merkt man, dass alle Personen mal mehr oder weniger offensichtlich miteinander verbunden sind. Ihre kleinste Gemeinsamkeit scheint dabei die Cafébesitzerin Roswitha zu sein, die zwar regelmäßig in den einzelnen Kapiteln auftaucht, selbst aber nicht zu den erzählenden zehn gehört.
Erzählvirtuosin
Simone Lappert ist eine begnadete Erzählerin. Orte, Personen, man meint sie beim Lesen vor dem inneren Auge zu sehen. Gerüche, Gefühle, all das beschreibt die Autorin mit den genau richtigen Worten, so dass ich tief in die Geschichte eintauchte und wie ein unsichtbarer Zuschauer dem Geschehen folgte. Mir war kein Wort zuviel, kein Wort zu wenig.
Ein wenig Philosophie
Am Ende entlässt die Geschichte alle Protagonisten in ein neues Leben, egal ob sie direkt oder indirekt vom Sprung betroffen waren. Selbst mich lässt die Geschichte in einer veränderten Stimmung zurück. Unmissverständlich macht sie mir klar, dass alles was ich tue, alles was wir tun (oder eben auch nicht), egal wie unbedeutend es uns auch erscheinen mag, immer ins Geschehen eingreift, den Lauf der Dinge verändert. Alles fließt. Panta rhei, würde Heraklit wohl sagen.
Der Sprung von Simone Lappert, Diogenes 2019 – 336 Seiten, 22 €
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